Vereinzelt, abgehängt, einsam: Immer mehr Menschen fühlen sich zurückgelassen. Die Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen hält dagegen: mit Angeboten für Teilhabe und Orten, wo sich Menschen live begegnen.
Nicht erst seit Corona wird die zunehmende Vereinzelung als Problem wahrgenommen. Was sind Ursachen?
Christa Stüve: Einsamkeit trifft verschiedene Gruppen: Da sind ältere Menschen, die keine barrierefreie Wohnung haben und nicht mehr rauskommen, weil sie keine Begleitung haben. Oder Kinder und Jugendliche, die Ängste haben oder die vielleicht auch keinen Bock mehr haben rauszugehen, weil eine Spielsucht vorliegt.
Dr. Dietmar Kehlbreier: Einsamkeit wird erzeugt, wenn ich keine Arbeit habe, wenn ich eine Suchtproblematik habe und deswegen nicht den üblichen Freundeskreis besuchen kann, wo abends ein Bier getrunken wird. Wenn ich Schulden habe und mir das Kino nicht leisten kann. Oder wenn ich als Jugendlicher soziale Schwierigkeiten habe und in der Schule dementsprechend nicht so leistungsfähig bin... und und und. Wenn sich Menschen zurückziehen, hat das immer einen Grund.
Was tun Sie dagegen?
Geschäftsführerin Christa Stüve: Menschen aus der Wohnung rauszuholen, Begegnungen zu schaffen – das bekämpft auch Vorurteile, gerade gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Dagegen hilft: Einfach begegnen, begegnen, begegnen! Ich glaube, da sind unsere Sozialkaufhäuser in Datteln, Herten und Recklinghausen ganz wichtig: Es kommen ganz viele zu uns, weil sie hier erstmal gucken, ein bisschen bummeln und Menschen treffen können. Das Kaufhaus ist ein Ort der Begegnung, wo Menschen, die sonst keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, Schritte in eine normale Berufstätigkeit machen. Deswegen ist das hier ein Ort mitten im Leben.
Dr. Dietmar Kehlbreier: Gegen Einsamkeit setzen wir Teilhabe. Wir fragen: Welche Mechanismen schließen Menschen aus, und was befähigt sie eigentlich zum gesellschaftlichen Leben? Wir können aber immer nur Angebote machen und eine Selbstwirksamkeit bei Menschen erzeugen – also, dass sie Orte finden und Fähigkeiten entwickeln, auf andere Menschen zuzugehen.
Ständig Menschen um sich zu haben kann zur Belastung werden. Wie erleben Ihre Mitarbeitenden das?
Dr. Dietmar Kehlbreier: Das stimmt. Deshalb müssen wir auch Rückzugsräume für unsere Belegschaften bilden. Aber es gibt eigentlich nichts Sinnstiftenderes als das Soziale, weil man das in jeder Begegnung vor Ort erlebt. Die Begegnung mit Menschen legt den Sinn unsere Arbeit sehr, sehr schnell offen.
Was ist das Besondere in der Arbeit des Diakonischen Werkes?
Christa Stüve: Ich glaube, unsere Stärke liegt darin, für alle Menschen im Kreis Recklinghausen Angebote zu machen. Wenn wir ein Altenheim betreiben, versuchen wir, eine Verbindung zu einer Kindertagesstätte zu schaffen. Die Begegnung zwischen Jung und Alt fördert ganz viel Gutes.
Dr. Dietmar Kehlbreier: Es wäre oft sinnvoll, Menschen aus unterschiedlichen Säulen des Sozialsystems zusammenzubringen – so, wie wir es in einem Quartiersprojekt in Marl gemacht haben. Aber leider wird bei uns viel in Säulen gedacht und die Sozialraumförderung wird kaum noch unterstützt.
Das Diakonische Werk im Kirchenkreis wurde vor 60 Jahren gegründet. Wo sind Sie heute angekommen?
Geschäftsführerin Christa Stüve: Wir sind stolz darauf, dass wir eine hohe Fachlichkeit und Professionalität erreicht haben, und wir sind präsent in der ganzen Region. Wir haben die Größe und organisatorischen Strukturen, um Mitarbeitende für unser Werk zu gewinnen und zu binden.
Dr. Dietmar Kehlbreier: Vielleicht das Faszinierendste ist: Aufgrund der Vielfalt der Kompetenzen findet man bei uns immer jemanden, der zu einer spezifischen Frage eine Antwort weiß.
Leider ist nicht alles finanzierbar, was wünschenswert wäre. Wie setzen Sie Prioritäten?
Dr. Dietmar Kehlbreier: Die Wirtschaftlichkeit ist immer nur ein Aspekt. Wir müssen auch abwägen: Wo können wir überhaupt fachlich einen qualifizierten Beitrag leisten? Und dann gibt es ein paar Dinge, wo wir uns kirchlich verpflichtet fühlen, weil es keinen anderen gibt, der das täte – zum Beispiel die Wohnungslosenhilfe, dafür gibt es null Euro Zuschuss. Diakonie ist immer für die Schwächsten der Schwachen da, die keine Lobby haben.
Was sind die größten Herausforderung der Zukunft?
Christa Stüve: Die Digitalisierung, die von uns erwartet, aber von Kostenträgern nicht finanziert wird. Digitalisierung kann Teilhabe von Menschen stärken, wenn man sie dabei unterstützt.
Dr. Dietmar Kehlbreier: Immer mehr behördliche Kontrollmechanismen, die das System teurer machen.
Christa Stüve: Der Fachkräftemangel, weil wir in unseren Arbeitsfeldern 24/7 da sein müssen: Ein Altenheim kann ich nicht wie ein Restaurant am Montag zu machen, wenn Personal fehlt.
NRW hat gewählt. Was wünschen Sie sich von den neuen Räten?
Dr. Dietmar Kehlbreier: Drei fromme Wünsche? Mehr übers Soziale reden! Nicht nur nach Berlin oder Düsseldorf zeigen, weil alles bei uns vor der Haustür passiert. Und drittens: Über Geld reden statt von vornherein zu sagen: Das darf nichts kosten.
Christa Stüve: Genau. Ein Beispiel: Die Etats der Kinder- und Jugendhilfe explodieren, weil die stationäre Unterbringung von Gefährdeten, eine Pflichtleistung der Kommunen, teuer ist. Zugleich gibt es zu wenig Geld, um präventiv zu arbeiten. Das ist Pflaster kleben statt die Ursachen zu bekämpfen. Wir müssen mehr in die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen investieren.
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